Halb Mensch, halb Fisch – als wäre das nicht schon besonders genug, besitzt die Meerjungfrau auch noch eine Superkraft: eine Stimme, die verzaubert. Die Beschreibung der Hybridwesen, die in Flüssen und Meeren auf der ganzen Welt gesichtet worden sein sollen, bewegt sich zwischen wohlwollend und böse. In der griechischen Mythologie etwa gab es die Sirenen: bösartige Kreaturen, halb Frau, halb Fisch, die auf einer Geisterinsel lebten. Sie lockten die Seeleute mit ihrem Gesang ins Verderben. Dann gab es die hilfsbereiten Nereiden. Diese Meeresnymphen, eilten auf dem Rücken eines Delfins oder Seepferdchens in Not geratenen Seeleuten zu Hilfe. Und auch der Befehlshaber über die Wellen war mit einem Fischschwanz ausgestattet: Triton, der Sohn von Meeresgott Poseidon.
Weiter nördlich, in den germanisch-nordischen Mythen und mittelalterlichen Fabeln, wird die Sirene meist als Metapher für eine verführerische Frau mit gefährlicher Sinnlichkeit interpretiert. Sie inspirierte sowohl die bildende Kunst als auch die Popkultur zu unterschiedlichen Darstellungen, von lieber Meerjungfrau bis böse Sirene: Als animierte Figur wie Disneys Arielle in «Die kleine Meerjungfrau» (1989), eine positivere Version von Hans Christian Andersens gleichnamigem Märchen. Oder dann als harmlose Erwachsenen-Version in der Komödie «Splash – Jungfrau am Haken» (1984), in dem Daryl Hannah als Meerjungfrau einfach nur von Tom Hanks geliebt werden will. In «Fluch der Karibik 4» zeigen die Nixen dann wieder ihre zwei gegensätzlichen Gesichter: betörend über, grausam unter der Wasseroberfläche. Diese Ambivalenz bietet immer wieder Stoff für neue Geschichten.
Sollte dir eine Meerjungfrau an den Kragen wollen, helfen dir vielleicht die Helden der griechischen Mythologie. In der Odyssee lässt sich Odysseus an den Mast des Schiffes binden, damit er dem Gesang der Sirenen (siehe Text links) lauschen kann, ohne ihm zu erliegen und sich ins Wasser zu stürzen. Seine Gefährten hingegen verschliessen sich die Ohren mit Wachs, damit sie weiterrudern können. Noch besser macht es Orpheus im Epos der Argonauten: Er besiegt die Sirenen, indem er mit seiner Leier in der Hand noch besser singt als sie. Wie stehts denn so um deine Gesangskünste?
Meerjungfrauen gibt es in verschiedenen Kulturen rund um den Globus. Die furchterregenden Roussalki in Osteuropa locken Männer in die Falle, indem sie ihr Haar um deren Füsse wickeln und sie auf den Grund des Gewässers ziehen. In Simbabwe ertränken die Mondaos mit ihren roten Augen und scharfen Zähnen unvorsichtige Menschen an den Flussufern. Weniger gruselig ist Sedna, die Königin des Meeres bei den Inuit, oder Sinjike, die Wächterin der Geomundo-Insel in Korea. In China sind die Jiaorens hervorragende Weberinnen, grosszügig und menschenfreundlich. Sie leben im Meer, fahren aber die Flüsse hinauf, um ihre Stoffe zu verkaufen. In der germanischen und nordischen Mythologie bewohnen andere Wassergeister die Fantasien der Völker, so etwa die Nixen oder Undinen.
Träumst du davon, dich in Arielle oder Triton zu verwandeln? Das Meeresvolk inspiriert verschiedene Trends. Übe schon mal das Schwimmen mit einer Monoflosse in Form eines Fischschwanzes. Oder besuche einen Freitaucher-Kurs. Und was wäre eine Meerjungfrau ohne ihre langen Haare? Der Mermaid-Hair-Trend, bei dem blaue, grüne und violette Akzente in die natürliche Haarfarbe einfliessen, ist eine Ode an die Wellen. Splash!
Zu allen Zeiten haben Seeleute geschworen, Meerjungfrauen begegnet zu sein. Man nimmt an, dass sie Seekühe und Dugongs, auch Seeschweine genannt, gesehen haben. Die runden Köpfe und die Besonderheit, dass sie aufrecht schwimmen können, indem sie die Flossen wie Hände bewegen, würden das Missverständnis erklären. Vielleicht ist auch der Rum im Blut der Matrosen mitschuldig.