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Liebe Leserinnen und Leser!
In schwierigen Zeiten wie diesen ist vor allem eines wichtig: Zusammenhalt und das Wissen, nicht alleine zu sein. Und was verbindet mehr, als gemeinsam für kurze Zeit dem Alltag zu entfliehen und auf eine gemeinsame Phantasiereise zu gehen?
Zusammen mit dem Diogenes Verlag schenkt 20 Minuten deswegen allen Menschen in der Schweiz jeden Tag ein Stück spannender Literatur zum gemeinsamen Schmökern. Wir publizieren täglich kostenlos ein Kapitel des fesselnden Krimi-Romans «Hunkeler in der Wildnis» des Aarauer Schriftstellers Hansjörg Schneider.
Lasst euch vom Lesevergnügen packen, teilt es mit euren Liebsten und vergesst nicht auf die kleinen Freuden im Leben. Bleibt gesund und passt auf euch und eure Mitmenschen auf!
Du warst nicht von Anfang an dabei? Kein Problem, hier findest du alle Kapitel.
Teil 11:
Er fuhr nach Knoeringue, dann am Täuferhof vorbei, wo an die fünfzig Milchkühe auf der Weide standen. Die Täufer, die noch unter dem Ancien Régime aus dem Bernbiet ins Elsass ausgewandert waren, produzierten als Einzige noch Milch, auf großen Höfen außerhalb der Dörfer.
Er fuhr über die Hochebene, wo ein Golfplatz angelegt wurde. In Folgensbourg links der »Aigle«, eine ehemalige Poststation der Habsburger. Von hier führte die Straße sanft hinunter in die Rheinebene, wo der Flughafen und die alte Stadt Basel zu sehen waren. Dahinter erhoben sich die dunklen Berge des Schwarzwaldes.
Beim Restaurant Bellevue zweigte er ab in Richtung Wentzwiller. Das Dorf wirkte ausgestorben, wie alle grenznahen Dörfer. Keine Bäckerei, kein alter Spezereiladen, bloß das neue Gebäude des Crédit Mutuel. Die große Wirtschaft an der Kreuzung war seit Jahren geschlossen.
Als er durch das liebliche Tal nach Buschwiller rollte, an den ungepflegten Apfelbäumen vorbei mit immergrünen Misteln in den Kronen, fragte er sich plötzlich, was er eigentlich im Sinn hatte. Er hatte doch vorgehabt, einige Zeit im Elsass zu verbringen, bei Katzen, Vögeln und Fledermäusen. Und heute Abend würde ihn Hedwig besuchen. Sie hatten sich bei Scholler in Knoeringue zum Essen verabredet.
Stattdessen fuhr er doch wieder nach Basel, dazu noch in dieser lächerlichen Vermummung. Beinahe wäre er umgekehrt. Aber er kehrte nicht um, weil er das Umkehren hasste. Er rollte über den Grenzübergang Bachgraben auf den Kannenfeldplatz. Dort parkte er vor dem Tankshop.
Er ging hinein und holte sich Brot, Milch, Salami und die Neue Zürcher Zeitung, das einzige Blatt aus der deutschen Schweiz, das sich, wie er fand, noch zu lesen lohnte. Er trat zu Musa Dogan an die Kasse.
»Mein Gott, Hunkeler«, sagte der, »wie siehst denn du aus? Wie ein Polarforscher.«
»Kein Wort über mich«, sagte Hunkeler leise. »Du kennst mich nicht. Ich bin inkognito hier.«
»Sie suchen dich. Weißt du das nicht? Komm nach hinten, ich verstecke dich.«
»Nein, nicht nötig. Ich möchte wissen, wie es deiner Mutter geht.«
»Sie hat einen Schock, wegen der Leiche. Und Angst, wegen ihrer Aufenthaltsgenehmigung. Sie haben sie verhört, auf dem Waaghof. Sie liegt im Bett in meiner Wohnung.«
»Dann grüß sie von mir.«
Er bestellte an der Bar einen Kaffee und setzte sich draußen ins pralle Sonnenlicht. Zwei ältere Motorradfahrer in schwarzer Ledermontur saßen am Nebentischchen, ihre Harleys standen aufgebockt bei den Zapfsäulen. Sie unterhielten sich über die heutige Tour in die Alpen. Sonst saßen nur Männer da, die in einer Sprache redeten, von der er kein Wort verstand. Er hob den Helm vom Kopf und überlegte, ob er die Zeitung lesen sollte. Aber es war zu heiß.
Eigentlich saß er gern hier, er fand es wunderbar proletarisch. In der Platzmitte der Kiosk, vor hundert Jahren erbaut, mit Toiletten für Damen und Toiletten für Männer, wie es sich gehörte. Mit einem Tabak- und Zeitungsladen, der von einer tamilischen Familie geführt wurde. Der Flughafenbus glitt vorbei, halb schlafende Gesichter hinter den Scheiben. Drüben sah er die dunklen Bäume des Parks. Er überlegte, ob er hineingehen sollte. Er wagte es nicht.
Als er den Kaffee getrunken hatte, erhob er sich und ging zur Kunstgalerie, die nebenan in einer ehemaligen Garage eingerichtet war. Dort war es bestimmt kühler. Zudem nahm es ihn schon lange wunder, was das für Kunst war, die in diesem Scherbenviertel verkauft werden sollte. Er las den Zettel neben dem Eingang, geschrieben von der ausstellenden Künstlerin.
»Ich habe nun über dreißig Jahre nicht viel anderes gemacht, als zu versuchen, im unendlichen Wasser zu schweben, ohne Anfang, ohne Ende, und manchmal kann ich mir vorstellen, dass dieses Sich-im-Wasser-Drehen endlos weitergehen wird, so wie es auch im Endlosen angefangen hat, vielleicht.«
Das fand er gut. Er ging hinein und schaute sich einige der Bilder an, die an den schneeweißen Wänden hingen. Schön, fand er, auch wenn ihm nicht klar war, was sie bedeuten sollten. Vielleicht nichts? Vielleicht war das Kunst, vielleicht auch nicht. Wer wusste das schon? Er jedenfalls nicht.
Hinten im Raum saß an einem Tischchen eine ältere Frau.
»Schau an«, sagte sie, »der knallgelbe Hunkeler, einem Hitzschlag nahe. Was verschafft mir die Ehre?«
Es war Käthi Jaun, eine Bauerntochter aus dem Emmental, eine stadtbekannte Stromerin, vor allem deshalb, weil sie stets, ob Sommer oder Winter, barfuß herumlief.
»Keine Angst«, sagte sie, »die Bilder sind nicht von mir. Ich passe bloß auf. Kaffee?«
»Danke, nein«, sagte er, »nur Wasser, viel Wasser.«
Sie erhob sich, um Leitungswasser in ein Glas laufen zu lassen.
»Quellwasser aus dem Schotterbett des Rheingrabens«, sagte sie, »aus tausend Metern heraufgeholt in die Neuzeit, blitzsauber und gesund. Was willst du mit der Damenjacke?«
»Die ist gegen die Zugluft. Ich bin mit dem Moped hier.«
»Ach so, du verkleidest dich. Geheimagent Hunkeler, das ist richtig scharf.«
Sie brach in ihr dreckiges Gelächter aus, das er so gern hörte, weil es direkt aus ihrer umfangreichen Tiefe kam.
»Bevor du umkippst«, sagte sie, »hinten gibt es eine Dusche.«
»Danke, nein, es geht ganz gut.«
Er trank das Glas in einem Zug aus.
»Noch eins?«
»Ja gern.«
»Sag mal, unter Freunden, alle reden über dich. Was hast du tatsächlich verbrochen?«
»Warum? Nichts.«
»Warum bist du denn hier? Im Elsass ist es kühler. Du hast doch den toten Heinrich Schmidinger gefunden. Bloß Zufall?«
»Was denn sonst? Ich war einfach im falschen Moment am falschen Ort.«
»Dann lies mal die Zeitung hier.«
Sie deutete auf das Zürcher Boulevardblatt, das vor ihr lag.
»Was steht da drin?«, fragte er.
Sie las vor: »Die Leiche im Park. Frage: Wo ist die dritte Kugel? Warte, ich hole dir ein Handtuch.«
Sie ging nach hinten. Und er las, was auf der dritten Seite stand, verfasst vom dicken Hauser, der schnellsten Kamera Basels. Der Schädel zertrümmert mit einer Boulekugel, zwei weitere Kugeln zwischen den Beinen. Ein Grasbüschel zwischen den Zähnen. War das eine Botschaft? Ein Altkommissär findet die Leiche. Purer Zufall? Und: Wir bleiben dran.
Er griff zum Handtuch, das ihm Käthi geholt hatte, und wischte sich das Gesicht ab.
»Es ist schlimmer, als ich gedacht habe«, sagte er.
»Ach was. Dieses Scheißblatt nimmt in Basel niemand ernst.«
»Aber alle lesen es.«
»Nicht mehr. Heute gehen alle ins Netz.«
»Was steht denn dort?«
»Das weiß ich doch nicht. Ich habe nicht einmal ein Handy. Wir Alten müssen an der alten Welt festhalten. Sonst geht sie endgültig vor die Hunde. Glaubst du nicht?«
Er lächelte gequält. Dann nickte er.
»Und was steht denn in der Basler Zeitung?«, fragte er.
»Nur kurz, ein sachlicher Bericht. Darüber, dass die Leiche von Heinrich Schmidinger im Kannenfeldpark gefunden wurde. Sonst nichts. Keine Vermutung, keine Spekulation.«
»Und meine Person?«
»Kein Wort. Aber lies doch selber, ich habe die BaZ hier.«
Er schüttelte den Kopf. Er mochte nichts lesen, gar nichts.
»Bringst du mir noch ein Wasser?«, bat er.
Er schaute sich noch einmal Hausers Bericht an. Das Bild dazu zeigte den Haupteingang des Kannenfeldparks. Vier heilige Männer auf Sockeln, die einst den Friedhof behüteten. Das hieß, dass Hauser nicht vor Ort gewesen war. Sonst hätte er sofort ein Bild gemacht und dieses Bild ins Blatt gerückt. Im Weiteren hieß das, dass er einen Zuträger hatte. Denn die Details konnte er unmöglich erfinden.
»Es ist widerlich«, sagte er. »Da sitzt du friedlich am Sonntagmorgen im Park, trinkst Kaffee und hörst den Kirchenglocken zu. Und dann stehst du plötzlich in der Zeitung. Was soll ich tun? Zur Colmarer Straße fahren, wo Hauser wohnt, und ihn verprügeln? Oder gleich zum Waaghof und mich stellen?«
»Du solltest erst mal deine Jacke ausziehen. Hier drin verhaftet dich jedenfalls niemand.«
»Nein.«
»Dann fahr einfach wieder hinaus, und lass Gras drüber wachsen.«
»Stimmt. Jetzt hätte ich doch gern einen Kaffee.«
Er schaute ihr zu, wie sie die Maschine betätigte.
»Im Grunde«, sagte er, »bist du ein großer Schatz. Weißt du das?«
»Klar weiß ich das.«
»Wo übernachtest du eigentlich?«
»Im Winter bei meinem Bruder in Kleinbasel. Im Sommer meistens im Park.«
»Da drüben?«
»Klar.«
»Ist das nicht verboten? Ich meine, der Park wird doch von 22 Uhr bis 6 Uhr in der Früh zugesperrt.«
»Da würde noch mancher staunen, wenn er wüsste, was in warmen Nächten im Park los ist. Ein idealer Schlafplatz. Und der Ueli lässt die Toilettentür offen. Da hast du alles, Klosett und fließend Wasser. Von der Flughafenseite kommt man beim Café Ankara ohne weiteres hinein, da gibt es eine Lücke in der Mauer. Und für die kleine Pforte von der Burgfelderstraße her sind Dutzende Schlüssel im Umlauf.« Sie griff sich in die Tasche und legte einen Schlüssel aufs Tischchen. »Hier, das ist meiner.«
»Woher hast du den?«
»Von Ueli Zgraggen aus Bristen.«
»Was, vom Stadtgärtner?«
»Ja, er hat ein weiches Herz. Er wohnt gleich hier um die Ecke. Diesen Schlüssel kannst du bei jedem Schlüsseldienst nachmachen lassen. Das dauert fünf Minuten. Willst du auch einen? Ich leihe dir meinen aus.«
»Schlafen in einer Wiese«, sagte er, »das ist genau das, was ich im Moment am liebsten tun würde. Vielleicht später.«
Die Fortsetzung folgt morgen. Du findest sämtliche Kapitel hier im Kanal: 20min.ch/diogenes
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Teilnameschluss: 19. April 2020