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Liebe Leserinnen und Leser!
In schwierigen Zeiten wie diesen ist vor allem eines wichtig: Zusammenhalt und das Wissen, nicht alleine zu sein. Und was verbindet mehr, als gemeinsam für kurze Zeit dem Alltag zu entfliehen und auf eine gemeinsame Phantasiereise zu gehen?
Zusammen mit dem Diogenes Verlag schenkt 20 Minuten deswegen allen Menschen in der Schweiz jeden Tag ein Stück spannender Literatur zum gemeinsamen Schmökern. Wir publizieren täglich kostenlos ein Kapitel des fesselnden Krimi-Romans «Hunkeler in der Wildnis» des Aarauer Schriftstellers Hansjörg Schneider.
Lasst euch vom Lesevergnügen packen, teilt es mit euren Liebsten und vergesst nicht auf die kleinen Freuden im Leben. Bleibt gesund und passt auf euch und eure Mitmenschen auf!
Du warst nicht von Anfang an dabei? Kein Problem, hier findest du alle Kapitel.
Teil 30:
Als Hunkeler erwachte, schien ihm die Morgensonne ins Gesicht. Er roch den Duft von kühler Erde, von frischem Gras. Er versuchte sich an die vergangene Nacht zu erinnern. An den Besuch im Milchhüsli. Ans Überklettern der alten Friedhofsmauer. An die beiden Frauen, die den jungen Mann verprügelten. Und an Madörin. Er hatte ihn eiskalt angelogen, was eigentlich überhaupt nicht ging. Aber der Kerl hatte sich allzu blöd angestellt.
Er erhob sich mühsam, indem er sich gegen die Mauer stützte. Die rechte Seite schmerzte noch immer, er hatte wohl ein paar Rippen leicht gequetscht. Dann ging er die Kastanienallee hinunter zum Ausgang Flughafenstraße und weiter zum Tankshop. Dort holte er sich einen halben Liter Wasser, einen Kaffee und ein Croissant.
»Wie siehst du denn aus?«, fragte ihn Musa Dogan.
»Warum?«
»Du schaust zerknittert aus, wie frisch aus der Waschmaschine.«
»Weil ich in einer Wiese geschlafen habe. Sie hat mich gewaschen. Wie geht’s deiner Mutter?«
»Alles in Ordnung. Sie hat sich erholt.«
Er setzte sich an eines der Tischchen draußen, das im Schatten stand. Es war angenehm kühl. Er nahm einen Schluck vom Kaffee. Schmeckte hervorragend. Er biss ins Croissant, herrlich. Eine verrückte Nacht war es gewesen. Aber er hatte einiges erfahren.
Von der Flughafenstraße her näherte sich eine hochaufgeschossene, dünne Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet, mit einem Zylinderhut auf dem Kopf. Sie ging über die Kreuzung, ohne nach rechts und links zu schauen, und betrat den Tankshop. Nach einer Weile erschien sie wieder mit einer Tasse Kaffee und einer Literflasche Wasser und setzte sich ans Tischchen neben Hunkeler. Es war eine Frau mit auffallend blassem Gesicht. In ihrer linken Tasche steckte eine kleine Bambusflöte.
»Wie viele Löcher hat Ihre Flöte?«, fragte er.
»Bloß fünf«, sagte sie. »Eine einfache Hirtenflöte aus Matala auf Kreta.«
Sie sprach mit fremdem Akzent. Ihr Alter war schwer zu schätzen.
»Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?«
»Leiden, Holland. Warum?«
»Weil ich vor einigen Tagen in einem Elsässer Dorf nahe der Grenze eine Bambusflöte gehört habe, mitten in der Nacht. Dann habe ich eine hohe, dunkle Gestalt vorbeigehen sehen. Es waren nur wenige Töne, die sich wiederholten. Ich habe die Gestalt Richtung Wald verschwinden sehen.«
»Das war ich. Ich spiele nie viele Töne.«
»Vergangene Nacht«, sagte er, »habe ich im Park drüben verbracht. Da habe ich dieselben Töne gehört. Erst habe ich gedacht, es sei ein Traum.«
»Nein, kein Traum. Das war ebenfalls ich.«
»Warum tun Sie das?«
»Ich bin unterwegs nach Cremona, der Stadt des singenden Holzes. Sie kennen sicher den Geigenbauer Stradivari.«
Hunkeler nickte.
»Dort will ich hin. Alles zu Fuß, alles in der Nacht. Ich schlafe immer draußen. Immer die Flöte am Mund. Sie führt mich, sie zeigt mir den Weg.«
»Haben Sie den Tod vor Augen?«
Wieder lächelte sie, mit eingefallenem Mund.
»Das haben wir doch alle. Aber zuerst das Leben, erst dann der Tod.«
Sie erhob sich, nahm die Wasserflasche und verbeugte sich.
»Danke für das Gespräch. Es war sehr angenehm.«
Sie ging langsamen Schrittes die Mühlhauserstraße hinunter Richtung Rhein.
Am Abend hielt es Hunkeler nicht mehr aus in der heißen Stadt. Er hatte ein paar Stunden auf seinem Bett gelegen, um ein bisschen Schlaf nachzuholen, geplagt von wirren Nachmittagsträumen. Er fragte sich wieder einmal, was er hier eigentlich tat. Was ging ihn dieser Hauser an mit seinen Lügengeschichten? Was der arme Ueli Zgraggen aus den Bergen? Und was die dürre Lady aus Leiden?
Immerhin hatten ihm die Begegnungen mit ihr überaus gut gefallen. Als sie in jener Nacht flötenspielend Richtung Wald gegangen war. Und als sie ihm im Tankshop erklärte, warum sie dies tat. Die Stadt des singenden Holzes. Schön klang das, überaus poetisch. Warum eigentlich, überlegte er, reiste er nicht auch zu Fuß und schlief draußen, wie sie? Er konnte noch immer stundenlang gehen, und er fühlte sich wohl dabei. Warum setzte er nicht selber Fuß vor Fuß, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen? Arles zum Beispiel in der Camargue? Oder Assisi, wo der heilige Franz begraben lag? Er hatte alles, was es dazu brauchte. Vor allem hatte er Zeit. Und wenn etwas schieflief, würde ihn Hedwig herausholen.
Er erhob sich vom Bett, rollte eine Wolldecke zusammen, steckte drei Äpfel ein und ein Mückenspray und machte sich auf den Weg. Er ging die Tramlinie entlang nach Allschwil und dort die Anhöhe hinauf Richtung Schönenbuch. Die Hitze lag noch immer schwer über der Stadt, der Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Die Sonne hing schräg oben vor seinen Augen, es war ihm, als schritte er direkt in ihr Licht hinein. Er durchwanderte das Dorf Schönenbuch und ging hinab zur Landesgrenze im Talgrund. Es folgte ein leichter Anstieg zum Friedhof von Wentzwiller. Dort setzte er sich auf die Mauer und aß einen Apfel. Die Sonne hing nur noch handbreit über dem Horizont. Im Norden erhoben sich die Vogesen, von den aufkommenden Schatten leicht bläulich überhaucht. Im Süden das dunkel ausrollende Juragebirge, im Osten der Schwarzwald, noch immer im Abendschein. Ein leichter Wind war aufgekommen, der kaum spürbar über die Anhöhe strich. Er freute sich, in den Abendhimmel hineinwandern zu können, und stieg hinab ins Dorf. Dort wusch er sich Gesicht und Hände am Brunnen und trank ausgiebig von der Röhre. Er dachte kurz daran, in den Wald zu den drei Schwestern zu gehen, denen dort eine kleine Kapelle errichtet worden war. Ein heiliger Ort offenbar, les trois sœurs, mehr war nicht bekannt. Aber immer am Palmsonntag gab es eine Prozession dorthin. Vielleicht waren es dieselben drei Frauen, die in Les Saintes-Maries-de-la-Mer verehrt wurden.
Hunkeler folgte dem schmalen Bachlauf, der nach Westen Richtung Folgensbourg hinaufführte. Ein holpriger Feldweg, der kaum noch befahren wurde. Alte Obstbäume in den Wiesen, halb verdorrt, voller Misteln. Er war froh, der Hitze der Stadt entronnen zu sein, den bohrenden Fragen nach fremder Schuld. Er selber hatte genug eigene Schuld auf sich geladen, fand er, wie jeder andere Mensch auch, der lebte und liebte. Er hatte genug damit zu tun.
Er roch den Geruch des Waldes nebenan, Holz, moderndes Laub. Auch ein Duft von Gras, von Heu war dabei, altbekannt und tröstlich. Er überlegte, ob er hier nächtigen sollte. Ein Feuer entfachen vielleicht, sich hinsetzen und zuschauen, wie das Holz langsam verglühte. Nein, dazu war es zu früh, der Himmel zu hell.
Als er auf der Höhe Folgensbourg erreichte, waren bereits die Straßenlaternen eingeschaltet. Ein Irrsinn war dies, denn hier ging niemand zu Fuß. Wer unterwegs war, saß in einem Auto mit Scheinwerfern. Aber so waren die Leute eben. Sie fürchteten sich vor der Dunkelheit, auch wenn sie noch gar nicht da war.
Oben bei der Wirtschaft Aigle, die Licht hatte, sah er im Westen das Abendrot aufleuchten. Er fragte sich, ob er kurz einkehren sollte, einen Imbiss einnehmen, einen Schoppen trinken. Er tat es nicht, ging weiter fürbass. Welch altertümliches Wort, fiel ihm ein, ich gehe fürbass.
Kurz bevor er den Wald betrat, glommen die Sterne auf. Ein endloser Himmel, übersät von weißem Gestirn. Er blieb stehen und breitete die Arme aus, um das ferne Licht zu grüßen. Dann bückte er sich und hob die Wolldecke auf, die ihm entglitten war. Er folgte dem Karrenweg, der ins Gehölz führte. Er kannte den Weg, er war ihn schon mehrmals gegangen, stets bei Tageslicht. Schon nach wenigen Schritten war die Dunkelheit undurchdringlich. Er schaltete die Taschenlampe ein und ging in ihrem Schein weiter bis zur großen Buche, die sein Ziel war. Hier, das wusste er, gab es eine freie Stelle, wo nichts als dürres, trockenes Laub lag. Hier setzte er sich nieder, aß die beiden restlichen Äpfel und sprayte sich gegen die Mücken Gesicht und Hände ein. So blieb er sitzen, den Rücken an den Stamm gelehnt.
Er wusste, dass im Wald immer irgendein Geräusch zu hören war, er kannte dies von früher. Stets war irgendwer unterwegs, eine Maus, ein Käfer, ein Fuchs. Trotzdem war es ihm erst unheimlich, hier zu sitzen und nichts anderes zu tun, als zu warten. Bis er endlich ruhig wurde, sich einrollte in die Decke und einschlief.
Er erwachte, weil ihn jemand in den Rücken stupste. Er wusste zuerst nicht, wo er war. Dann packte ihn der kalte Schreck. Wer war das gewesen, wer war neben ihm in der Schwärze? Er rührte sich nicht, lauschte in die Dunkelheit. Er hörte ein schnelles Atmen. Er setzte sich vorsichtig auf, schaltete die Lampe ein und richtete den Strahl dorthin, wo das Atmen herkam. Zwei Augen leuchteten auf, fremd und gefährlich. Wem gehörten diese Augen, wer verbarg sich dahinter? Was kroch da auf ihn zu aus der Nacht?
Bis er den Geruch wahrnahm, der aus einem Tiermaul kommen musste. Nach totem Fleisch, nach Verwesung.
»Kaspar, du Köter«, sprach er und versuchte, sich zu beruhigen. »Du hast mich zu Tode erschreckt. Komm her.«
Der Hund kroch heran und wollte ihm die Hand lecken.
»Lass das. Es freut mich auch, dich wiederzusehen. Aber was tust du hier, allein mitten im Wald?«
Er schüttelte kurz den Kopf und grinste. Dann blickte er hinauf ins Laub, in dem der erste Schimmer des Tages hing.
»Einer wie ich, so etwas Verrücktes. Also komm her, leg dich an meine Füße. Ich schlafe jetzt noch zwei, drei Stunden. Dann sehen wir weiter.«
Die Fortsetzung folgt morgen. Du findest sämtliche Kapitel hier im Kanal: 20min.ch/diogenes
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Teilnameschluss: 27. April 2020