Im April 2023, zwei Wochen vor dem Antritt ihrer neuen Stelle als Logopädin am CHUV, erfährt Pauline, Mitte 30 und Mutter von zwei kleinen Kindern, dass ihr Mann an Krebs erkrankt ist. Wie ist es ihr in einem so komplexen Umfeld wie der Spitalpflege und dank der Unterstützung ihrer Vorgesetzten Pascaline gelungen, ein Gleichgewicht zwischen ihrer eigentlichen Arbeit und ihrer neuen Rolle als pflegende Angehörige ihres Mannes zu finden?
Pauline, Sie sagten, dass sich der Krebs «auf brutale Weise in Ihr Leben eingeschlichen hat» – und das zu einem Zeitpunkt, der auch für Ihr Berufsleben sehr wichtig war: nur zwei Wochen, bevor Sie Ihre Stelle als Logopädin am CHUV antreten wollten. Wie haben Sie das Ihrem zukünftigen Arbeitgeber beigebracht?
Pauline: Ein paar Stunden nach der Krebsdiagnose meines Mannes habe ich instinktiv zuerst Pascaline, meine direkte Vorgesetzte, angerufen. Im Laufe des Einstellungsverfahrens haben wir ein Vertrauensverhältnis aufgebaut. Es war dann in erster Linie auch ein Gespräch von Mensch zu Mensch und nicht von Vorgesetzter zu Mitarbeiterin.
Wie haben Sie es nach der Diagnose geschafft, Ihre neue Rolle als pflegende Angehörige Ihres Mannes und Ihre Rolle als Logopädin unter einen Hut zu bringen?
Pauline: Als ich Pascaline davon erzählte, war es für mich nicht selbstverständlich, dass ich es mir selber «erlaubte», zu arbeiten. Eine grosse Befürchtung war, dass ich nicht in der Lage sein würde, die Arbeit zum geplanten Termin aufzunehmen, weil mein Privat- und Familienleben durch die Krankheit plötzlich auf den Kopf gestellt worden war. Es war eine grosse Erleichterung für mich, als ich erfuhr, dass ich meine Stelle wie geplant antreten konnte. Und als ich im CHUV anfing, sah ich, dass es konkrete Lösungen für meinen Fall gab und diese auch umgesetzt wurden. Ich wurde gehört und mit Wohlwollen behandelt – und sehr bald wurde ich auch bei der Suche nach Lösungen einbezogen.
Pascaline: Mir wäre es nie in den Sinn gekommen, Paulines Einsatzbereitschaft in Frage zu stellen. Ich hatte keine Zweifel an ihren Fähigkeiten und war mir auch sicher, dass sie ihre Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen erledigen würde, solange wir uns auf die Situation einstellen würden. Daher wollte ich sofort eine Lösung finden und abklären, wie das CHUV pflegenden Angehörigen unter die Arme greifen kann. Ich erhielt wertvolle Unterstützung von Vanessa, der Personalberaterin in unserer Abteilung. Sie informierte mich über den 12-tägigen Pflegeurlaub, der Pauline zustand. Dann arbeiteten wir Hand in Hand mit unserer Abteilung, um die Arbeitslast an den Tagen, an denen Pauline bei ihrem Mann sein muss, zu verteilen. Und ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich, wenn Pauline bei der Arbeit ist, absolut keinen Unterschied zu einer anderen Person aus unserem Team sehe. Sie zeigt vollen Einsatz und ist genauso leistungsfähig wie alle anderen.
Wie wichtig ist es für Sie, Pauline, trotz Ihrer Rolle als pflegende Angehörige weiterhin zu arbeiten?
Pauline: Die Arbeit ist für mich sehr wichtig. Sie verschafft mir den nötigen Ausgleich im Leben und sorgt dafür, dass ich nicht «nur» die pflegende Angehörige meines Mannes bin. Ich liebe meinen Beruf, und es stand nie zur Debatte, ihn aufzugeben. Für pflegende Angehörige ist die Unterstützung des Arbeitgebers enorm wichtig. Denn nur so ist es möglich, normal weiterzuarbeiten. Meine Arbeit ist Zeit für mich, ein kognitives Bedürfnis und zugleich eine finanzielle Ressource, auf die meine Familie nicht verzichten kann. Durch meine berufliche Tätigkeit bleibe ich im Gegensatz zu anderen ein Teil der Gesellschaft und mit ihr verbunden. Über die Isolation pflegender Angehöriger wird nicht viel gesprochen. Sie ist aber real und hat Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Gesundheit.
Gesundheitsförderung Schweiz verlieh dem CHUV 2019 das Label «Friendly Work Space». Das Label kann alle drei Jahre durch externe Prüfer und eine Neubewertung verlängert werden. Dies geschah beim CHUV zuletzt im Jahr 2022. Die mit dem Label «Friendly Work Space» ausgezeichneten Unternehmen erfüllen sechs Qualitätskriterien für Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM), die vom Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) unterstützt werden. Die BGM-Kriterien lassen sich leicht in bestehende Qualitätsprozesse integrieren. Mit welchen Massnahmen könnten Personen in Ihrer Situation unterstützt werden?
Pauline: Ich glaube, ich hatte grosses Glück mit dem CHUV. Ich fand auf allen Ebenen Menschen, die mir zuhörten, nach Ressourcen suchten und Lösungen fanden. Und all das dank Pascaline, die alles für diese humane und fürsorgliche Unterstützung in Bewegung gesetzt hat. Direkte Vorgesetzte haben entscheidenden Einfluss. Dies sollte innerhalb des CHUV stärker kommuniziert werden. Das fängt damit an, dass man zunächst erklärt, was pflegende Angehörige überhaupt sind, dass es über die Betreuung von älteren Angehörigen hinausgeht. Es geht darum, die Vielfalt der Situationen aufzuzeigen, in der sich letztlich alle von uns wiederfinden können, so wie es mir selbst passiert ist. Wir müssen kommunizieren, informieren und dann Wege finden, um Ressourcen reibungslos und schnell zu aktivieren. Es liegt also noch ein weiter Weg vor uns.
Pascaline: Den Begriff «pflegende Angehörige» gibt es noch nicht lange. Ich teile die Meinung von Pauline. Wir müssen auf allen Ebenen über diese komplexe Rolle und ihre Auswirkungen auf die berufliche Tätigkeit informieren. Das CHUV könnte Personen wie Maud Coderey in der Einrichtung einsetzen. Sie haben die Aufgabe, Führungskräfte und pflegende Angehörige, die im CHUV arbeiten, zu unterstützen und über Lösungen zu informieren, die es ihnen ermöglichen, ihre Arbeit unter den bestmöglichen Bedingungen fortzusetzen. Das Spitalwesen ist einer der organisatorisch komplexesten Bereiche, aber es lassen sich Lösungen finden und Verfahren einführen.
Zum Abschluss noch eine Frage an Sie, Pauline: Was möchten Sie Menschen, die in Ihrer Situation sind und ihre Rollen als Pflegekraft, Arbeitnehmerin und Elternteil unter einen Hut bringen müssen, mit auf den Weg geben?
Pauline: Sie sollten auch weiterhin arbeiten, wenn das für Sie wichtig ist, und sich dabei nicht schuldig fühlen, da die Arbeit einen wichtigen Ausgleich schafft. Sie sollten versuchen, Menschen zu finden, die sich in ähnlichen Situationen befinden, sei es am Arbeitsplatz oder anderswo. Damit sie sich austauschen und mitteilen können. Und sie sollten sich für die Unterstützung, die sie am Arbeitsplatz erhalten, nicht schuldig fühlen, da es sich dabei nicht um eine Privilegierung handelt. Die Zeit, die man als pflegende Angehörige mit einer pflegebedürftigen Person verbringt, ist alles andere als Erholung. Ich möchte abschliessend noch festhalten, dass ich das Entgegenkommen von Pascaline und vom übrigen Team sehr schätze. Sie haben immer ein offenes Ohr für mich und zeigen Anteilnahme: «Wie geht es dir?», «Wie sind die letzten medizinischen Ergebnisse deines Mannes ausgefallen?», «Wenn du etwas brauchst, bin ich für dich da». Das macht viel aus und kostet nichts.
Das Label «Friendly Work Space» setzt den Schweizer Qualitätsstandard für systematisch umgesetztes betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) und wird vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) und vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) gestützt.
Die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz, die einen gesetzlichen Auftrag hat, stellt die Zertifizierung aus. Basis bilden sechs Qualitätskriterien, welche die Gesundheit der Mitarbeitenden fassbar und bewertbar machen und von unabhängigen externen Assessierenden geprüft und bestätigt werden.
«Systematisches BGM lohnt sich für Firmen und Organisationen u.a. aufgrund der präventiven Wirkung, der Massnahmen zur raschen Wiedereingliederung und den entsprechenden Kosteneinsparungen. BGM und das Label Friendly Work Space werden zudem immer wichtiger im Employer Branding», so Thomas Brändli, Projektleiter Kommunikation BGM.
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